Musikraumarchitektur: Raummusik
Das Stück, an dem ich gerade arbeite heißt Horizont Architektur - dies waren die ersten beiden Wörter der ersten Textversion, die mir mein Textautor Alban Herbst zusandte. Die Kombination dieser beiden Wörter hat mich unmittelbar angesprochen.
Architektur gehörte zu den ersten Stimuli meiner Arbeit überhaupt. In einer Liste von Anregungen, die ich noch am Anfang meiner kompositorischen Arbeit vor fast 30 Jahren schrieb, um mir Rechenschaft zu geben über meinen “geometrischen Ort”, meine ästhetischen Wurzeln, findet sich neben Partituren (Berlioz’ Requiem, Stockhausens Gruppen, Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter), Büchern (Joyce’ Ulysses, Arno Schmidts Zettel), Bildern (Duchamps Großes Glas und sein Akt, eine Treppe herabsteigend) auch ein Band über den Architekten Frank Lloyd Wright: In the Nature of Materials. Es war genau dieser vom Buchtitel benannte Aspekt der Werke des Architekten, der mich fesselte und sich wohl bis heute in meiner Musik immer wieder dingfest machen läßt: dem Material seine Natur (und damit seine Würde) zu belassen und sich trotzdem diese beim kompositorischen Akt zunutze zu machen.
Um Mißverständnisse auszuschließen (sie sind oft genug entstanden): “Material” wird hier nicht im Sinne der 1950er Jahre verstanden als etwas, dessen vermeintlich historische Eigengesetzlichkeit wie ein Axiom als riesiger Balken in meinem Arbeitszimmer und dort über meinem Schreibtisch liegt und mich am Arbeiten hindert.
Material verstehe ich hier vielmehr in einem direkten, haptischen Sinne. Ein Haus von Frank Lloyd Wright, das einen lebenden Baum, einen Bach zu integrieren vermag behandelt sein Material in diesem nämlichen Sinne. Nur so und nur an dieser einzigen Stelle konnte es gebaut werden. Der Bauplan würde an jedem andern Bauplatz der Welt sinn- und wertlos.
Auch der Raum, in dem Musik gehört wird, kann ein solches Material sein. Es ist behutsam mit ihm umzugehen; einen abstrakten Plan gleich welchem Raum aufzunötigen, geht an seinen Möglichkeiten vorbei. Das immer passende Stereostrickmuster links-rechts-links wird ihm kaum gerecht...
Vorstellung des Raumes als Projektionsfläche für Klangbewegungen
Mein “Erweckungserlebnis” in der Jugend - ich war vielleicht 14 oder 15 Jahre alt, wir sind also in den 1960er Jahren - war die Begegnung mit der Bildenden Kunst der Zeit. Es war die Zeit der Op-Art, Pop-Art, Fluxus, LandArt und der Environments. Als ich dann einige Zeit später erste Schritte außerhalb der damals für mich immer noch wichtigen Rockmusik machte, galten einige meiner ersten Versuche denn auch nicht nur der absoluten Musik, sondern dem, was man Environments nannte: Installationen, also eine optisch/akustische Raumkomposition. Ohne, daß mir solches in seiner Tragweite damals bewußt gewesen wäre, gehen auch ganz frühe meiner Kompositionen in auffälliger Weise mit dem Raum um. Doch bewegen sie meist nur ein Klangereignis im Raum, was zwar Räumlichkeit suggeriert, den Raum jedoch letztlich nur als eine vertikale Fläche nutzt, auf die ein Klangereignis zur räumlichen Erfahrung lediglich projiziert wird, und sei es im Kreis um das Publikum herum (was nur ein Kippen der vertikalen Fläche um 90° in die Horizontale bedeutet). Der vermeintlichen Dreidimensionalität fehlte sozusagen die dritte Dimension.
Interessanterweise wird oft nicht nur der Raum in dieser Art verflacht, sondern - in Entsprechung - auch die Zeit verräumlicht, so, als sei es unerträglich schwer, die jeweils zusätzliche Dimension in das kompositorische Denken einzubringen. Was ich meine ist: die Zeit wird als ein Gefäß verstanden, in das etwas (Klänge, oder im einschlägigen Jargon: “Strukturen”) hineingesteckt werden kann. Dies ist nichts anderes als eine Verräumlichung der Zeit, der der wesenshafte Charakter der Zeitlichkeit, also Dynamik, die Schaffung von Zeit überhaupt, abgeht.
Dies läßt sich konkret an kompositionstechnischen Details aufzeigen: die Geburt der Zeit aus der Musik gelingt nur aus einem vegetativ wachsenden, prozeßhaften Ablauf heraus - der Komponist gestaltet vom Kleinen ausgehend hin zum Großen. Das Fehlen dieser dynamischen Eigenschaft bedingt einen statischen Charakter der Musik, die oben angesprochene Verräumlichung der Zeit: der Komponist denkt vom Großen zum Kleinen und zerteilt so eine a priori definierbare Zeitstrecke.
Im Vergleich würde das für die Architektur heißen: ein sozusagen von innen nach außen gebauter Raum, von kleineren Modulen ausgehend gedacht (dynamisch, Beispiel: Berliner Philharmonie) als Gegensatz zu einem vorgegebenen Bauvolumen, das in einzelne Räume zerteilt wird (statisch: “Plattenbauten”, überhaupt die meisten Wohnhäuser der letzten 50 Jahre, leider).
Die räumliche Dimension hatte ich mir - aus heutiger Sicht - auch mit dem Orchesterwerk Schwelle noch nicht wirklich erobert, für das ich vier Teilorchester bildete und dazu Tonbandklänge gemäß Lissajous-Figuren in den Raum projizieren wollte. Erst mit den Flötenstücken von 1983 erahnte ich, daß ich an einer Vorstellung des Raumes als (Projektions-) Fläche zur Verteilung von Klängen festhielt. Flötenstücke ist ein Stück für Solo-Altflöte und sieben Spieler: von links nach rechts auf der Bühne also Soloflöte, Baßflöte, Klarinette, Horn, Trompete, Bratsche, Vcello und Harfe. Je weiter man von der Soloflöte das Ensemble von links nach rechts durchmisst, desto weiter entfernt sich der Instrumentalcharakter vom Flötenklang.
Im zweiten Satz nun laufen auf engstem Raum (sowohl in kurzer Zeit als auch polyphon überlagert) eine Vielzahl musikalischer Prozesse ab, deren Fluchtpunkt immer die Solo-Flöte ist. Jeder Strang beginnt mit einem oder mehreren der weiter rechts postierten Instrumente und endet in der Flöte, zielt auf die Flöte hin. Durch die Sitzordnung wird dies auch räumlich sinnfällig gemacht - alle musikalischen Prozesse laufen sowohl vom Klangcharakter der Instrumente her als auch im Raum von rechts nach links auf die Flöte zu.
Ausfaltung komplex polyphoner Musik in den Raum
Mit den Flötenstücken schlug ich für mich nicht nur ein neues Kapitel im Räumlichen Denken auf, auch die polyphone Anlage meiner Musik tritt zum erstenmal in ein sehr augenfälliges Stadium: Es gilt als Allgemeingut, daß ein musikalischer Satz nach dem andern beginnt, der zweite also nach dem ersten, der dritte nach dem zweiten und so fort. Dies hat seinen (chrono-) logischen Grund; doch begann ich mich zu fragen, ob damit denn auch das Ende eines Satzes a priori vorbestimmt wäre? Immerhin ist es ja möglich, daß ein Satz weiterläuft, während der nächste schon begonnen hat. Und so überwölbt der dritte Satz der Flötenstücke in der Soloflöte die Sätze vier und fünf, beendet schließlich, obgleich die beiden folgenden Sätze zuende sind, das Stück. Diese Polyphonie nicht einfach nur einzelner Stimmen, sondern ganzer Abschnitte und später zunehmend selbständiger Stücke nimmt hier ihren Anfang und wird zu einem der bestimmenden Merkmale meiner Arbeit.
Bei späteren Stücken wie Relais (l’œil) ATILA roundling und erst recht bei up down strange charm geht die Unabhängigkeit der miteinander polyphon vernetzten Partituren so weit, daß jedes der Stücke auch einzeln aufgeführt werden kann.
Bei Simultanaufführungen verschmelzen die einzelnen Stücke zu einer größeren Einheit, sollen aber gleichwohl in ihrer Eigenständigkeit erhalten und auch wahrgenommen werden. Wird das Orchester in einem solchen Fall in traditioneller Weise aufgestellt, die einzelnen polyphonen Stränge also nicht voneinander räumlich getrennt, hat der Hörer kaum eine Chance, auch nur einem Strang klar zu folgen: die Verschmelzung steht dem im Wege. Es ist daher unabdingbar, die Einzelstücke nicht nur in Charakter und Besetzung deutlich voneinander abzusetzen , sondern sie auch weitmöglich im Raum getrennt aufzubauen, um so ein selektives Hören zu ermöglichen.
abstrakter Raum / konkrete Räume
Die Erfahrung hat mich gelehrt, davon abzusehen, bei der Positionierung von Teilensembles im Raum außerhalb der Bühne in der Partitur einen verbindlichen Aufbauplan vorzuschreiben. Ein differenziertes Eingehen auf die räumlichen Bedingungen eines Aufführungsortes würde dadurch verhindert. Um einer abstrakten Idee willen würden nicht nur baulich und/oder akustisch ungünstige Bedingungen in Kauf genommen, sondern auch die in jedem Saal schlummernden positiven Möglichkeiten ungenutzt bleiben.
Mit jeder Aufführung muß der räumliche Aspekt eines Stückes neu geboren werden, aber nach den Tests bei den Proben habe ich bisweilen das glückliche Gefühl, weniger diese Musik im Raum zum Klingen zu bringen, als vielmehr: den Raum selber musikalisch zu erwecken, ihn selber zu hören.
dezentralisierte Verteilung der musikalischen Ereignisse im Raum, Aufbrechen der räumlichen Hierarchien
Polyphonie, also Mehrstimmigkeit und die Ausfaltung dieser Stimmen in den Raum gehören für mich zueinander und sind nicht zu trennen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich nicht nur um einen Kontrapunkt von einzelnen Stimmen handelt, sondern um eine Polyphonie von komplexeren Gebilden bis hin zu eigenständigen Partituren.
Daß es sich um ein aus eigenständigen Partituren gebildetes größeres Ganzes handelt und nicht nur ein Ensemble im Raum verteilt wird, um die Klänge wandern zu lassen, hat eine nicht unerhebliche Konsequenz: Das Raumerleben des Hörers gewinnt eine neue Dimension hinzu, da nicht nur der Raum in besonderer Weise vom Klang erfüllt, ja überhaupt durch den Klang erst definiert wird, sondern die Verwandtschaft zwischen den Einzelstücken durch den Kontext, also gemeinsame Tonhöhen (“Zentraltöne”), Rhythmen oder auch das Gegenteil davon durch den Raum und über ihn hinweg sinnlich erfahrbar wird und so zum Hörerlebnis beiträgt.
Unter meinen Kompositionen gibt es insbesondere seit 1989 einige, die nicht nur den Raum in besonderer Weise konzeptionell integrieren, sondern auch jeweils für einen besonderen Raum entworfen wurden. Ich nenne sie meine “Architekturstücke”.
Das erste davon trägt, wenn auch im eher übertragenen Sinne, die räumliche Anlage bereits im Titel: Andere Räume für vier Schlagzeuger und vier Tonbandspuren. Die Idee für dieses Stück entstand spontan durch die Begegnung mit einem konkreten Raum, oder besser: die Begehung eines Raumes. Ich besuchte mit einem befreundeten Maler einen von dessen Sammlern, der uns mit Stolz die neugebaute Zentrale seines Industrieunternehmens zeigte. Der riesige Raum der Eingangshalle, durch den nur ab & an hastig jemand hindurcheilte, hatte es mir angetan und ich entwarf spontan eine Installation mit versteckten Lautsprechern und Photozellen, die bei Aktivierung durch einen sich im Raum bewegenden Besucher einen Klang auslösen würden. Ich entwarf ein System, das mit einer astronomischen Uhr ein Reservoir von Herbst- (=Abend-), Winter- (=Nacht-), Frühlings- und Sommerklängen (Morgen- und Mittagsklängen) einmal täglich und innerhalb eines Jahres um 360° drehen sollte, aber das Projekt scheiterte damals an der mangelnden Speicherkapazität des Computers, und ich veränderte nach und nach die Konzeption des Stückes hin zu einer Komposition für Schlagzeuger und Tonbandklänge. Es bleibt die Aufteilung in Tages- oder Jahreszeiten und vor allem die Vorstellung des Raumes als dezentral, sodaß jeder mögliche Ort eines Hörers gleich viel gilt und die Eindimensionalität des Hier-spielt-die-Musik/dort-ist-der-Hörer aufgegeben wird. Es gilt somit, in einem Konzertraum acht unregelmäßig verteilte Orte zu finden, an denen Spieler und Lautsprecher postiert werden können. Die Eigenheiten des Raumes sind zu berücksichtigen und zu betonen; bei der Premiere einer korrigierten Fassung im Frühjahr dieses Jahres waren Spieler und Lautsprecher auf vier Etagen des Konzertraumes verteilt, 360° um die Zuhörer herum.
up down strange charm entstand für verschiedene konkrete Räume. up für Klavier solo und down für Oktett waren ein Auftrag des Schömerhauses in Klosterneuburg bei Wien. Nach Plänen des Architekten Heinz Tesar gebaut, verfügt dieses Gebäude über einen alle Stockwerke durchragenden Innenhof, der optisch durch die Brüstungen der rund umlaufenden Balkons gerahmt wird. Dem Portal gegenüber, dem Eintretenden also genau im Blick gibt es durch diese lichte runde Tonnenform einen schweren Vertikalschnitt: einen die Leichtigkeit des offenen Raumes kontrapunktierenden Treppenbau. Ich entschied mich, nicht nur die beiden Teilstücke - also das Klavier von up und das Oktett von down - zu trennen, sondern zudem auch die drei Bläser von den Streichern abzusondern.
Das Klavier wurde etwas abseits, aber seiner Solofunktion folgend an herausragender Stelle links postiert, die Streicher mit dem Dirigenten zentral vor dem Treppenabsatz. Klarinette und Fagott saßen sich diametral auf dem Balkon des ersten Stockwerks links und rechts gegenüber, während das - teilweise ebenfalls solistisch geführte - Horn oben in der Mitte durch die medaillonförmige Aussparung im Geländer eines zentralen Treppenabsatzes sichtbar war. Die acht Spieler des Oktetts waren so im Großen und Ganzen optisch und musikalisch symmetrisch aufeinander zu beziehen mit hervorgehobener Rolle des Horns. Das Klavier fiel aus dieser Symmetrie heraus und wurde gerade dadurch auch als erster Solist wahrgenommen.
strange und charm wurden im Auftrag des Akiyoshidai-Festivals in Japan komponiert, zur Eröffnung des International Art Village des Architekten Arata Isozaki. Isozaki zeichnete mir etwa zwei Jahre vor dem UA-Termin eine kleine Skizze und erklärte: es gibt einen Konzertsaal und Probenräume/Seminarräume, die ein großes U miteinander formen. Im Innern des U sollte ein Teich sein mit einer kleinen Insel. Mir war klar, daß ich diese Anlage nutzen wollte, zumal die großen Glaswände des Konzertsaales zum Teich hin aufgefahren werden konnten. Ich sah vor meinem inneren Auge bereits die beiden Musikerinnen von charm (Violine und shô) auf der Insel im Teich spielen, mit dem Trio von strange (Klarinette, Harfe und Schlagzeug) auf der Bühne im Saal. Es sollte aber ganz anders kommen: Die extrem hohe Temperatur und Luftfeuchtigkeit hätten die europäischen Instrumente nachhaltig ruiniert - und das sommerliche Zirpen der Zikaden war zur Zeit der UA dermaßen laut, daß an die offenen Tore nicht zu denken war (wenngleich dies ein schöner Kontrapunkt gewesen wäre). Es mußte eine Lösung im Saale gefunden werden. Und die war so, daß Violine und shô nun anstatt auf der Insel im Teich hinter und über dem Publikum auf dem höchsten Rang postiert wurden. Die Wirkung war außerordentlich - die “Kanaltrennung” optimal, die Akustik des Raumes wunderbar: durch die Distanz verschmolzen die Klänge der beiden charm-Instrumente derart, daß wie bei einem Meta-Instrument stellenweise nicht mehr auszumachen war, ob nun das eine oder das andere oder sogar beide spielten.
Die einzige Beeinträchtigung in dieser Lösung schien mir nur, daß entgegen meiner ursprünglichen Absicht nun eine deutliche Hierarchie herrschte von nah und fern, die für einen unvorbereiteten Hörer zunächst als “wichtig” (=nah) und “weniger wichtig” (=fern) mißdeutbar sein konnte - die weiter oben angesprochene Eindimensionalität des Hörens.
Mit einem einige Jahre zuvor uraufgeführten anderen Kompositionsauftrag für Akiyoshidai - tôku/NAH für zwei Blasorchester - hatte ich versucht, mich von diesen Hierarchien zu befreien: je nach Aufenthaltsort des Zuhörers wird das tôku- (japanisch für fern)-Orchester zum NAH-Orchester und umgekehrt.
Daß die Musik von einer punktförmig zu denkenden Quelle im Raum ausgeht, der der Hörer gegenübertritt, ist selbst für den einsam privaten Hörer zuhause ungenügend - man denke nur an die Bemühungen der Industrie, einen Raumklang möglichst plastisch reproduzieren zu können.
Die akustischen Quellen der Musik dreidimensional im Raum aufzufalten hat demgegenüber nicht nur den Vorteil, das selektive Hören polyphoner Strukturen zu erleichtern, sondern auch durch das Aufbrechen der Hierarchie unterschiedlicher Ensembles - fern und nah - jedem Hörer, abhängig von seiner Position im Raum, seine eigene Tiefenstaffelung, seinen nur für ihn geltenden Klangeindruck, letztlich: seine eigene Musik schenken zu können.
Robert HP Platz (Darmstadt 2002)
Das Stück, an dem ich gerade arbeite heißt Horizont Architektur - dies waren die ersten beiden Wörter der ersten Textversion, die mir mein Textautor Alban Herbst zusandte. Die Kombination dieser beiden Wörter hat mich unmittelbar angesprochen.
Architektur gehörte zu den ersten Stimuli meiner Arbeit überhaupt. In einer Liste von Anregungen, die ich noch am Anfang meiner kompositorischen Arbeit vor fast 30 Jahren schrieb, um mir Rechenschaft zu geben über meinen “geometrischen Ort”, meine ästhetischen Wurzeln, findet sich neben Partituren (Berlioz’ Requiem, Stockhausens Gruppen, Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter), Büchern (Joyce’ Ulysses, Arno Schmidts Zettel), Bildern (Duchamps Großes Glas und sein Akt, eine Treppe herabsteigend) auch ein Band über den Architekten Frank Lloyd Wright: In the Nature of Materials. Es war genau dieser vom Buchtitel benannte Aspekt der Werke des Architekten, der mich fesselte und sich wohl bis heute in meiner Musik immer wieder dingfest machen läßt: dem Material seine Natur (und damit seine Würde) zu belassen und sich trotzdem diese beim kompositorischen Akt zunutze zu machen.
Um Mißverständnisse auszuschließen (sie sind oft genug entstanden): “Material” wird hier nicht im Sinne der 1950er Jahre verstanden als etwas, dessen vermeintlich historische Eigengesetzlichkeit wie ein Axiom als riesiger Balken in meinem Arbeitszimmer und dort über meinem Schreibtisch liegt und mich am Arbeiten hindert.
Material verstehe ich hier vielmehr in einem direkten, haptischen Sinne. Ein Haus von Frank Lloyd Wright, das einen lebenden Baum, einen Bach zu integrieren vermag behandelt sein Material in diesem nämlichen Sinne. Nur so und nur an dieser einzigen Stelle konnte es gebaut werden. Der Bauplan würde an jedem andern Bauplatz der Welt sinn- und wertlos.
Auch der Raum, in dem Musik gehört wird, kann ein solches Material sein. Es ist behutsam mit ihm umzugehen; einen abstrakten Plan gleich welchem Raum aufzunötigen, geht an seinen Möglichkeiten vorbei. Das immer passende Stereostrickmuster links-rechts-links wird ihm kaum gerecht...
Vorstellung des Raumes als Projektionsfläche für Klangbewegungen
Mein “Erweckungserlebnis” in der Jugend - ich war vielleicht 14 oder 15 Jahre alt, wir sind also in den 1960er Jahren - war die Begegnung mit der Bildenden Kunst der Zeit. Es war die Zeit der Op-Art, Pop-Art, Fluxus, LandArt und der Environments. Als ich dann einige Zeit später erste Schritte außerhalb der damals für mich immer noch wichtigen Rockmusik machte, galten einige meiner ersten Versuche denn auch nicht nur der absoluten Musik, sondern dem, was man Environments nannte: Installationen, also eine optisch/akustische Raumkomposition. Ohne, daß mir solches in seiner Tragweite damals bewußt gewesen wäre, gehen auch ganz frühe meiner Kompositionen in auffälliger Weise mit dem Raum um. Doch bewegen sie meist nur ein Klangereignis im Raum, was zwar Räumlichkeit suggeriert, den Raum jedoch letztlich nur als eine vertikale Fläche nutzt, auf die ein Klangereignis zur räumlichen Erfahrung lediglich projiziert wird, und sei es im Kreis um das Publikum herum (was nur ein Kippen der vertikalen Fläche um 90° in die Horizontale bedeutet). Der vermeintlichen Dreidimensionalität fehlte sozusagen die dritte Dimension.
Interessanterweise wird oft nicht nur der Raum in dieser Art verflacht, sondern - in Entsprechung - auch die Zeit verräumlicht, so, als sei es unerträglich schwer, die jeweils zusätzliche Dimension in das kompositorische Denken einzubringen. Was ich meine ist: die Zeit wird als ein Gefäß verstanden, in das etwas (Klänge, oder im einschlägigen Jargon: “Strukturen”) hineingesteckt werden kann. Dies ist nichts anderes als eine Verräumlichung der Zeit, der der wesenshafte Charakter der Zeitlichkeit, also Dynamik, die Schaffung von Zeit überhaupt, abgeht.
Dies läßt sich konkret an kompositionstechnischen Details aufzeigen: die Geburt der Zeit aus der Musik gelingt nur aus einem vegetativ wachsenden, prozeßhaften Ablauf heraus - der Komponist gestaltet vom Kleinen ausgehend hin zum Großen. Das Fehlen dieser dynamischen Eigenschaft bedingt einen statischen Charakter der Musik, die oben angesprochene Verräumlichung der Zeit: der Komponist denkt vom Großen zum Kleinen und zerteilt so eine a priori definierbare Zeitstrecke.
Im Vergleich würde das für die Architektur heißen: ein sozusagen von innen nach außen gebauter Raum, von kleineren Modulen ausgehend gedacht (dynamisch, Beispiel: Berliner Philharmonie) als Gegensatz zu einem vorgegebenen Bauvolumen, das in einzelne Räume zerteilt wird (statisch: “Plattenbauten”, überhaupt die meisten Wohnhäuser der letzten 50 Jahre, leider).
Die räumliche Dimension hatte ich mir - aus heutiger Sicht - auch mit dem Orchesterwerk Schwelle noch nicht wirklich erobert, für das ich vier Teilorchester bildete und dazu Tonbandklänge gemäß Lissajous-Figuren in den Raum projizieren wollte. Erst mit den Flötenstücken von 1983 erahnte ich, daß ich an einer Vorstellung des Raumes als (Projektions-) Fläche zur Verteilung von Klängen festhielt. Flötenstücke ist ein Stück für Solo-Altflöte und sieben Spieler: von links nach rechts auf der Bühne also Soloflöte, Baßflöte, Klarinette, Horn, Trompete, Bratsche, Vcello und Harfe. Je weiter man von der Soloflöte das Ensemble von links nach rechts durchmisst, desto weiter entfernt sich der Instrumentalcharakter vom Flötenklang.
Im zweiten Satz nun laufen auf engstem Raum (sowohl in kurzer Zeit als auch polyphon überlagert) eine Vielzahl musikalischer Prozesse ab, deren Fluchtpunkt immer die Solo-Flöte ist. Jeder Strang beginnt mit einem oder mehreren der weiter rechts postierten Instrumente und endet in der Flöte, zielt auf die Flöte hin. Durch die Sitzordnung wird dies auch räumlich sinnfällig gemacht - alle musikalischen Prozesse laufen sowohl vom Klangcharakter der Instrumente her als auch im Raum von rechts nach links auf die Flöte zu.
Ausfaltung komplex polyphoner Musik in den Raum
Mit den Flötenstücken schlug ich für mich nicht nur ein neues Kapitel im Räumlichen Denken auf, auch die polyphone Anlage meiner Musik tritt zum erstenmal in ein sehr augenfälliges Stadium: Es gilt als Allgemeingut, daß ein musikalischer Satz nach dem andern beginnt, der zweite also nach dem ersten, der dritte nach dem zweiten und so fort. Dies hat seinen (chrono-) logischen Grund; doch begann ich mich zu fragen, ob damit denn auch das Ende eines Satzes a priori vorbestimmt wäre? Immerhin ist es ja möglich, daß ein Satz weiterläuft, während der nächste schon begonnen hat. Und so überwölbt der dritte Satz der Flötenstücke in der Soloflöte die Sätze vier und fünf, beendet schließlich, obgleich die beiden folgenden Sätze zuende sind, das Stück. Diese Polyphonie nicht einfach nur einzelner Stimmen, sondern ganzer Abschnitte und später zunehmend selbständiger Stücke nimmt hier ihren Anfang und wird zu einem der bestimmenden Merkmale meiner Arbeit.
Bei späteren Stücken wie Relais (l’œil) ATILA roundling und erst recht bei up down strange charm geht die Unabhängigkeit der miteinander polyphon vernetzten Partituren so weit, daß jedes der Stücke auch einzeln aufgeführt werden kann.
Bei Simultanaufführungen verschmelzen die einzelnen Stücke zu einer größeren Einheit, sollen aber gleichwohl in ihrer Eigenständigkeit erhalten und auch wahrgenommen werden. Wird das Orchester in einem solchen Fall in traditioneller Weise aufgestellt, die einzelnen polyphonen Stränge also nicht voneinander räumlich getrennt, hat der Hörer kaum eine Chance, auch nur einem Strang klar zu folgen: die Verschmelzung steht dem im Wege. Es ist daher unabdingbar, die Einzelstücke nicht nur in Charakter und Besetzung deutlich voneinander abzusetzen , sondern sie auch weitmöglich im Raum getrennt aufzubauen, um so ein selektives Hören zu ermöglichen.
abstrakter Raum / konkrete Räume
Die Erfahrung hat mich gelehrt, davon abzusehen, bei der Positionierung von Teilensembles im Raum außerhalb der Bühne in der Partitur einen verbindlichen Aufbauplan vorzuschreiben. Ein differenziertes Eingehen auf die räumlichen Bedingungen eines Aufführungsortes würde dadurch verhindert. Um einer abstrakten Idee willen würden nicht nur baulich und/oder akustisch ungünstige Bedingungen in Kauf genommen, sondern auch die in jedem Saal schlummernden positiven Möglichkeiten ungenutzt bleiben.
Mit jeder Aufführung muß der räumliche Aspekt eines Stückes neu geboren werden, aber nach den Tests bei den Proben habe ich bisweilen das glückliche Gefühl, weniger diese Musik im Raum zum Klingen zu bringen, als vielmehr: den Raum selber musikalisch zu erwecken, ihn selber zu hören.
dezentralisierte Verteilung der musikalischen Ereignisse im Raum, Aufbrechen der räumlichen Hierarchien
Polyphonie, also Mehrstimmigkeit und die Ausfaltung dieser Stimmen in den Raum gehören für mich zueinander und sind nicht zu trennen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich nicht nur um einen Kontrapunkt von einzelnen Stimmen handelt, sondern um eine Polyphonie von komplexeren Gebilden bis hin zu eigenständigen Partituren.
Daß es sich um ein aus eigenständigen Partituren gebildetes größeres Ganzes handelt und nicht nur ein Ensemble im Raum verteilt wird, um die Klänge wandern zu lassen, hat eine nicht unerhebliche Konsequenz: Das Raumerleben des Hörers gewinnt eine neue Dimension hinzu, da nicht nur der Raum in besonderer Weise vom Klang erfüllt, ja überhaupt durch den Klang erst definiert wird, sondern die Verwandtschaft zwischen den Einzelstücken durch den Kontext, also gemeinsame Tonhöhen (“Zentraltöne”), Rhythmen oder auch das Gegenteil davon durch den Raum und über ihn hinweg sinnlich erfahrbar wird und so zum Hörerlebnis beiträgt.
Unter meinen Kompositionen gibt es insbesondere seit 1989 einige, die nicht nur den Raum in besonderer Weise konzeptionell integrieren, sondern auch jeweils für einen besonderen Raum entworfen wurden. Ich nenne sie meine “Architekturstücke”.
Das erste davon trägt, wenn auch im eher übertragenen Sinne, die räumliche Anlage bereits im Titel: Andere Räume für vier Schlagzeuger und vier Tonbandspuren. Die Idee für dieses Stück entstand spontan durch die Begegnung mit einem konkreten Raum, oder besser: die Begehung eines Raumes. Ich besuchte mit einem befreundeten Maler einen von dessen Sammlern, der uns mit Stolz die neugebaute Zentrale seines Industrieunternehmens zeigte. Der riesige Raum der Eingangshalle, durch den nur ab & an hastig jemand hindurcheilte, hatte es mir angetan und ich entwarf spontan eine Installation mit versteckten Lautsprechern und Photozellen, die bei Aktivierung durch einen sich im Raum bewegenden Besucher einen Klang auslösen würden. Ich entwarf ein System, das mit einer astronomischen Uhr ein Reservoir von Herbst- (=Abend-), Winter- (=Nacht-), Frühlings- und Sommerklängen (Morgen- und Mittagsklängen) einmal täglich und innerhalb eines Jahres um 360° drehen sollte, aber das Projekt scheiterte damals an der mangelnden Speicherkapazität des Computers, und ich veränderte nach und nach die Konzeption des Stückes hin zu einer Komposition für Schlagzeuger und Tonbandklänge. Es bleibt die Aufteilung in Tages- oder Jahreszeiten und vor allem die Vorstellung des Raumes als dezentral, sodaß jeder mögliche Ort eines Hörers gleich viel gilt und die Eindimensionalität des Hier-spielt-die-Musik/dort-ist-der-Hörer aufgegeben wird. Es gilt somit, in einem Konzertraum acht unregelmäßig verteilte Orte zu finden, an denen Spieler und Lautsprecher postiert werden können. Die Eigenheiten des Raumes sind zu berücksichtigen und zu betonen; bei der Premiere einer korrigierten Fassung im Frühjahr dieses Jahres waren Spieler und Lautsprecher auf vier Etagen des Konzertraumes verteilt, 360° um die Zuhörer herum.
up down strange charm entstand für verschiedene konkrete Räume. up für Klavier solo und down für Oktett waren ein Auftrag des Schömerhauses in Klosterneuburg bei Wien. Nach Plänen des Architekten Heinz Tesar gebaut, verfügt dieses Gebäude über einen alle Stockwerke durchragenden Innenhof, der optisch durch die Brüstungen der rund umlaufenden Balkons gerahmt wird. Dem Portal gegenüber, dem Eintretenden also genau im Blick gibt es durch diese lichte runde Tonnenform einen schweren Vertikalschnitt: einen die Leichtigkeit des offenen Raumes kontrapunktierenden Treppenbau. Ich entschied mich, nicht nur die beiden Teilstücke - also das Klavier von up und das Oktett von down - zu trennen, sondern zudem auch die drei Bläser von den Streichern abzusondern.
Das Klavier wurde etwas abseits, aber seiner Solofunktion folgend an herausragender Stelle links postiert, die Streicher mit dem Dirigenten zentral vor dem Treppenabsatz. Klarinette und Fagott saßen sich diametral auf dem Balkon des ersten Stockwerks links und rechts gegenüber, während das - teilweise ebenfalls solistisch geführte - Horn oben in der Mitte durch die medaillonförmige Aussparung im Geländer eines zentralen Treppenabsatzes sichtbar war. Die acht Spieler des Oktetts waren so im Großen und Ganzen optisch und musikalisch symmetrisch aufeinander zu beziehen mit hervorgehobener Rolle des Horns. Das Klavier fiel aus dieser Symmetrie heraus und wurde gerade dadurch auch als erster Solist wahrgenommen.
strange und charm wurden im Auftrag des Akiyoshidai-Festivals in Japan komponiert, zur Eröffnung des International Art Village des Architekten Arata Isozaki. Isozaki zeichnete mir etwa zwei Jahre vor dem UA-Termin eine kleine Skizze und erklärte: es gibt einen Konzertsaal und Probenräume/Seminarräume, die ein großes U miteinander formen. Im Innern des U sollte ein Teich sein mit einer kleinen Insel. Mir war klar, daß ich diese Anlage nutzen wollte, zumal die großen Glaswände des Konzertsaales zum Teich hin aufgefahren werden konnten. Ich sah vor meinem inneren Auge bereits die beiden Musikerinnen von charm (Violine und shô) auf der Insel im Teich spielen, mit dem Trio von strange (Klarinette, Harfe und Schlagzeug) auf der Bühne im Saal. Es sollte aber ganz anders kommen: Die extrem hohe Temperatur und Luftfeuchtigkeit hätten die europäischen Instrumente nachhaltig ruiniert - und das sommerliche Zirpen der Zikaden war zur Zeit der UA dermaßen laut, daß an die offenen Tore nicht zu denken war (wenngleich dies ein schöner Kontrapunkt gewesen wäre). Es mußte eine Lösung im Saale gefunden werden. Und die war so, daß Violine und shô nun anstatt auf der Insel im Teich hinter und über dem Publikum auf dem höchsten Rang postiert wurden. Die Wirkung war außerordentlich - die “Kanaltrennung” optimal, die Akustik des Raumes wunderbar: durch die Distanz verschmolzen die Klänge der beiden charm-Instrumente derart, daß wie bei einem Meta-Instrument stellenweise nicht mehr auszumachen war, ob nun das eine oder das andere oder sogar beide spielten.
Die einzige Beeinträchtigung in dieser Lösung schien mir nur, daß entgegen meiner ursprünglichen Absicht nun eine deutliche Hierarchie herrschte von nah und fern, die für einen unvorbereiteten Hörer zunächst als “wichtig” (=nah) und “weniger wichtig” (=fern) mißdeutbar sein konnte - die weiter oben angesprochene Eindimensionalität des Hörens.
Mit einem einige Jahre zuvor uraufgeführten anderen Kompositionsauftrag für Akiyoshidai - tôku/NAH für zwei Blasorchester - hatte ich versucht, mich von diesen Hierarchien zu befreien: je nach Aufenthaltsort des Zuhörers wird das tôku- (japanisch für fern)-Orchester zum NAH-Orchester und umgekehrt.
Daß die Musik von einer punktförmig zu denkenden Quelle im Raum ausgeht, der der Hörer gegenübertritt, ist selbst für den einsam privaten Hörer zuhause ungenügend - man denke nur an die Bemühungen der Industrie, einen Raumklang möglichst plastisch reproduzieren zu können.
Die akustischen Quellen der Musik dreidimensional im Raum aufzufalten hat demgegenüber nicht nur den Vorteil, das selektive Hören polyphoner Strukturen zu erleichtern, sondern auch durch das Aufbrechen der Hierarchie unterschiedlicher Ensembles - fern und nah - jedem Hörer, abhängig von seiner Position im Raum, seine eigene Tiefenstaffelung, seinen nur für ihn geltenden Klangeindruck, letztlich: seine eigene Musik schenken zu können.
Robert HP Platz (Darmstadt 2002)