Robert HP Platz
Werkkommentar
GRENZGÄNGE STEINE


Grenzgänge (UA Köln 1993) bildet mit weiteren, noch nicht entstandenen Teilen und mit SCHREYAHN (Zeitinstallation für Violoncello und Instrumentalgruppen, UA Metz 1990) ein größeres Werk, das nach und nach als work in progress entsteht. Die Titel gehen zurück auf das wendländische Rundlingsdorf Schreyahn, in dessen Künstlerhof ich 1989/90 einige Zeit lebte und dessen konkrete akustische Bedingungen (= ein Klavier von links, ein Klavier von rechts, Klänge von draußen, von oben...) mich zunächst in die Verzweiflung, dann in die Konzeption von SCHREYAHN trieben...
Der Ort Schreyahn lag zur Zeit meines Aufenthaltes ganz nahe an der Grenze zur DDR; eine Grenze, die mich in Gedanken- wie auf Spaziergängen magisch anzog und gleichzeitig abstieß: ein eigenartiges Faszinosum, das seine Krönung im Aufbrechen, Vernarben,Verschwinden fand und im tastenden Erkunden dessen, was auf der anderen Seite war. Heute liegt Schreyahn nicht mehr am Rande im Nirgendwo, sondern im Zentrum eines Landes, dessen Mitte, da vorher Rand, nun leer geworden ist.

Damit sind einige Grundgedanken der Komposition bereits umrissen: Grenzgänge schließen das Ertasten des Fern- und trotzdem Naheliegenden ebenso ein wie ein Umkreisen, ein Denken in Zyklen.
Und so wirken das zuerst entstandene SCHREYAHN und Grenzgänge STEINE wie Teile einer zyklischen Weiterentwicklung, wie das immer engere Umkreisen eines Klangs, einer Farbe (und eines Instrumentes = Violoncello), eines sich immer weiter entziehenden Zentrums...

Das Mitte-Werden des Randes (oder das Rand-Werden der Mitte) erinnert an die berühmten und inzwischen fast modisch gewordenen Apfelmännchen der fraktalen Geometrie, die, je weiter man in sie hineinschaut, desto mehr selbstähnliche Detailgebilde entwickeln, sodaß ein Gang immer an der Grenze entlang schließlich doch nicht zum Ausgangspunkt zurückführt, sondern immer tiefer hinein, immer weiter zu einem nie erreichbaren fernen Zielpunkt, der auch seinerseits nur als Rand, nicht Mitte beschreibbar sein wird. Bekanntlich entstehen solche Formationen durch fortwährende Rückkoppelung eines schöpferischen (oder rechnerischen, was so unschöpferisch ja auch nicht ist) Prozesses mit sich selbst. Musikalisch gesprochen: jedes Detail kann zum Ausgangspunkt für immer wieder neue Weiterentwicklungen werden. Formal ist damit eine Großkomposition als Entwicklungskette von Einzelpartituren gemeint, die die nächsten Jahre meiner Arbeit ausfüllen wird: ein Immer-Weiter-Spinnen, ein Alles-In-Sich-Aufnehmen, letztlich eine Aufhebung aller tradierter musikalischer Genres in einem gemeinsamen Strom, von dem jedoch nur Teile auf einmal hörbargemacht werden können, der aber trotzdem weiterfließt, sich aufteilt, wieder zusammenfindet.

Es gehört zum Wesen dieser Musik  -  wie in fast allen meinen Werken der letzten Jahre  -  daß Aufteilungen und Verzweigungen des musikalischen Stromes als mehr oder weniger selbständige Sätze oder gar Einzelstücke realisiert werden.
In Grenzgänge, der Initialzündung der geplanten Großkomposition (oder, um im Bilde zu bleiben: dem Ursprung, der Quelle des Stromes) zweigt ein Stück für zwei Klaviere ab: STEINE, geschrieben für Kristi Becker und Pi Hsien Chen. Im Titel dieses kurzen (auch einzeln aufführbaren) Stückes finden mehrere Assoziationsketten zusammen: Zum Einen ist Steine jene winzige Ortschaft, an deren Ende der Weg abzweigt in die Felder, nach Schreyahn. Gerade entschlossen, die topographische (wie musikalische) Nachbarschaft titelmäßig zu erfassen, fanden wir zuhause jenen Stein wieder, der uns in Schreyahn zum Offenhalten der Tür gedient hatte. Am selben Abend sah ich in einem Buch über die japanische Teezeremonie die Abbildung eines Steins, der  -  kreuzförmig verschnürt  -  im Teegarten den Weg weist. Er sah ein wenig aus wie mein Stein aus Schreyahn. Und der liegt nun, liebevoll verschnürt, in meinem Zimmer. Der Weg, den er weist, führt hinaus in den Park, fort, immer weiter...

Viel Zeit in Schreyahn habe ich im Gespräch mit dem Lyriker Heinz Kattner verbracht. Sein Gedicht habe ich in meine Komposition aufgenommen.

Robert HP Platz




ABEND HINTER SCHREYAHN

 (für Robert HP Platz)

Von der Landschaft haben wir nur
noch eine Ansicht gemeinsam
verlassen wir das Haus mitten im
Gespräch während Nebelstreifen
den Wald vom Boden trennen die
Bäume schweben wie eine Erscheinung
die Leiber der Pferde auch unter der
großen Kastanie rostet die Erde
wo wir stehen willst du den Geruch
benennen auf dem Asphaltweg
Spuren vom Acker im Reifenmuster
zeigst du mir die ersten Sterne
fliegt ein Schatten vorbei und ruft
ich erzähle was man von Käuzen sagt
und du sagst diesen einfachen Laut
wieder und wieder verlangsamt
hörst du dann die unglaublichen
Abstufungen in einem einzigen Schrei

Heinz Kattner, Januar 1990