Robert HP Platz
Werkkommentar
nerv II


In der Gesamtform der mit GRENZGÄNGE STEINE begonnenen Werkreihe (GRENZGÄNGE STEINE, SCHREYAHN , tôku/NAH, ANDERE RÄUME, nerv II) markiert diese Partitur einen besonderen Punkt der Entwicklung: bis dahin wurde der musikalische Raum Stück für Stück immer mehr ausgeweitet, bis mit tôku/NAH und zuletzt ANDERE RÄUME eine Gleichwertigkeit der nebeneinander geltenden Abläufe, von Fern (japanisch = tôku) und Nah erreicht ist.

Mit nerv II nun tritt die so polyphonisierte Form in ein neues Stadium. Von hier ab laufen die verschiedenen Stränge auseinander, gehorchen die an verschiedenen Raumpunkten zu spielenden Stücke nicht mehr nur einer vertikalen Gesamtpartitur, sondern entwickeln sich  -  Emanzipation polyphoner Schichten  -  einzeln (= einzeln aufführbar) horizontal weiter, ohne daß allerdings ein differenziertes System vertikaler Zusammenhänge zu den noch präsenten Klängen von ANDERE RÄUME und dem nächstfolgenden WEITER aufgegeben wäre. Die Anlage des seit GRENZGÄNGE STEINE immer weiter wachsenden Gesamt-Werks erlaubt dabei auch langsame und langsamste Entwicklungen über einen größeren Zeitraum hinweg. So leitet sich die Bläserbesetzung von nerv II aus einer bereits in GRENZGÄNGE keimhaft angelegten Konstellation von Blasinstrumenten ab, die als Fernorchester in SCHREYAHN (Buch VI) und tôku/NAH (tôku-Orchester) wiedererscheint. Mit nerv II wird der Emanzipationsprozeß dieser Besetzungskonstellation abgeschlossen; sie begegnet uns viel später erst als Echo wieder.

Das musikalische Material von nerv II besteht aus vier ebenfalls bereits in GRENZGÄNGE STEINE exponierten Gesten, die jeweils an eine Teilbesetzung (Klavier allein, Holz- , Blechbläser, Violine solo) gebunden sind und in ihren verschiedenen Kombinationen, Durchdringungen und Transformationen den zeitlichen Ablauf bestimmen. Alle vier dieser "Gesten" sind prozeßhaft konzipiert, entwickeln sich also aus kleinsten rhythmischen Zellen frei weiter vom Kleinen ins Große. Statische, also nicht gestische Abschnitte wie zuletzt in ANDERE RÄUME und wieder in der Orchesterpartitur von WEITER würden hingegen als verräumlichte Zeit vom Großen ins Kleine divisorisch strikt geplant und tauchen in nerv II nicht auf.

Der Violinpart entstand für Irvine Arditti und spart somit nicht mit virtuosen Anforderungen, die zumeist durch die Überlagerung verschiedener Schichten in ihren jeweiligen Tempi entstehen. nerv II ist Irvine Arditti gewidmet.

Robert HP Platz