Zeitstrahl (Quartett)
Unser
musikalisches Denken bedient sich einiger Begriffe, die es
- aus der Mathematik entlehnt - mit anderen Künsten
teilt.
Die Prozeßform etwa wurde in der Literatur schon von
E.A. Poe, später von Gertrude Stein, Raymond Roussell und anderen
erörtert; die Werke der Kubisten, Abstrakten Expressionisten, ja fast
aller Kunstströmungen seither bis in die jüngste Zeit könnten ohne den
Begriff des Prozeß (als projezierte Zeit) kaum erfasst werden. Während
aber theoretische Erörterungen solcher Art in der Literatur und
Bildenden Kunst hinter das einzelne Werk zurücktreten, bleiben sie in
der Musik oft im Vordergrund, seltsam abstrakt, dem Verständnis eher im
Wege. Dabei entspringt zwar der Umgang mit Prozessen, mit der
Gestaltung des Ablaufs der Zeit in der Musik - immerhin der
zeitlichsten aller Künste - theoretischem Kalkül, doch
stellt er für den Komponisten eine täglich zu machende praktische
Erfahrung dar: Zeit ist nicht die vierte, sondern die erste Dimension
aller Dinge - die Frage, ob etwas ist oder nicht ist, die
Frage nach der puren Existenz eines Dinges also, ist die Frage nach
seiner Zeit.
Die musikalischen Implikationen dieses Ansatzes
sprengen den Rahmen dieser Zeilen; jede kompositorische Entscheidung
stellt sich zu allererst der Frage nach dem WANN, auf allen Ebenen der
Arbeit vom kleinsten Detail bis zum Entwurf der Großform. Wie dabei
bisher Selbstverständliches zum Sonderfall (weil nur zu einem
bestimmten Zeitpunkt möglich und sinnvoll) wird, habe ich das eine oder
andere Mal gesprächsweise mit einem astronomischen Vergleich zu
erklären versucht. So ist es falsch, zu sagen: Dort oben ist ein Stern.
Vielleicht gibt es ihn ja schon lange nicht mehr, nur sein Licht ist
immer noch zu uns unterwegs und das Ende des Lichtstrahls rast
durch den Raum auf uns zu. Und eine Stunde, bevor ich telephonisch um
diesen Text gebeten werde, lese ich (sinnigerweise in der “ZEIT“: Nr 19
vom 1.5.87): "Innerhalb von Stunden steigerte der Stern seine
Leuchtkraft millionenfach: So hell wie 30 Millionen Sonnen strahlte er,
ehe eine gigantische Explosion seine äußere Hülle zerfetzte. Das
geschah in grauer Vorzeit. Der Affenmensch von Java war zwar schon
lange tot, doch unsere Vorfahren hatten noch einen weiten Weg zum
Neandertaler vor sich, der etwa 50000 Jahre später auftauchte.
Wahrscheinlich haben Erscheinungen am Himmel unseren Urahnen noch
nichts bedeutet. Aber selbst wenn sie gezielt das Firmament beobachtet
hätten, ihnen wäre nichts aufgefallen. Denn das gleissend grelle Licht
der Explosion brauchte für seinen Weg etwa 170 000 Jahre. Am 23.
Februar 1987 erreichte ein schwacher Schimmer endlich die Erde."
Zeitstrahl wurde auf Anfrage von Irvine Arditti für das Arditti-Quartett geschrieben und ist diesen Musikern gewidmet.
Robert HP Platz
Quartett (Zeitstrahl) (1986)
Streichquartett
UA: Köln, 24. Juni 1987
Dauer: 15'
Verlag: Breitkopf & Härtel
www.rhpp.de
info@rhpp.de
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