Was heißt eigentlich “komponieren”?
Was heißt eigentlich komponieren?
Gemeinhin wird zur Erklärung auf die ethymologische Herleitung vom lateinischen componere verwiesen. Und das bedeutet zusammensetzen, zusammenstellen, zusammenlegen.
Dies ist nicht falsch. Aber von der Feststellung, daß komponieren von componere komme bis hin zu Beethovens Großer Fuge ist der Weg noch recht steinig und weit.
Immerhin ergibt das Zusammensetzen sagen wir: eines Kängurukopfes,
eines Schuhkartons und eines Polizeisprechfunkgerätes noch kein
Kunstwerk. Oder (für alle Fälle melde ich für diese Kombination mein
Copyright an. Nicht, daß ein junger aufstrebender Künstler damit den
Turner-Prize bekommt)?
Die Erklärung scheint also mangelhaft. Ergänzen wir also: es geht um das sinnvolle Zusammensetzen in einem Werkzusammenhang oder: den Kontext.
Damit ist unser Begriffswerkzeug zwar immer noch allzuweit von seinem
Gegenstand entfernt, umfasst aber immerhin alles - von der
unverschämtesten Schnulze bis...: ja: eben auch Beethovens Großer Fuge.
Denn dieser Werkzusammenhang oder Kontext ist für den Komponisten für jedes Werk frei wählbar.
Springen wir von Beethoven Fuge rund 130 Jahre bis in die 1950er Jahre,
stoßen wir auf einen von Karlheinz Stockhausen aufgestellten Imperativ,
der diesen Sachverhalt recht genau trifft. Stockhausen forderte
nämlich, daß in Zukunft für ein Werk X nur noch Akkorde mit X-Charakter
komponierbar seien. Er forderte also ein Neuerfinden des
Werkzusammenhangs mit jedem Stück und darüber hinaus noch mehr: daß
dieser Werkzusammenhang wie ein genetischer Code jedem Klang einer
Komposition eingeschrieben sei.
Dies hatte Implikationen auf mehreren Ebenen des Komponierens zur
Folge, der Harmonik etwa, und sogar der Besetzung: mit Werken wie Refrain für Klavier, Vibraphon und Celesta löste er die eigene Forderung ein, ebenso wie Pierre Boulez mit seinem Marteau sans Maitre für Altstimme, Altflöte, Xylorimba, Vibraphon, Schlagzeug, Bratsche und Gitarre, ausgehend von Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire, bei dem mit jedem der 21 Sätze die Besetzung wechselte.
• Klangbeispiel 1: Boulez, Marteau, Ausschnitt 2. Satz
Wir gehen der Frage nach: was heißt komponieren,
und sind so weit gekommen zu sagen: komponieren heißt, einen
spezifischen Werkzusammenhang zu schaffen, innerhalb dessen der
Komponist sein akustisches Material sinnvoll zusammensetzt.
Nur: was heißt das?
Klänge, so läßt sich vorstellen, sind wie Lebewesen; sie haben
Eigenschaften, verlieren Eigenschaften, sie tragen Energie
- oder: sie lassen sich mit Informationen aufladen, und zwar auf
verschiedenen Ebenen.
Natürlich hat jeder Ton einige Grundeigenschaften wie: eine Tonhöhe,
eine Dauer, Farbe, Lautstärke und so fort, doch die sind hier weniger
gemeint als solche Eigenschaften, die der Komponist als solche frei
wählen kann, um den schon angesprochenen Werkzusammenhang zu bestimmen.
Der Komponist kann Töne und Klänge mit Information aufladen durch die
Art und Weise, wie sie hervorgebracht werden oder auch durch den
Kontext, in dem sie stehen.
Töne lassen sich so komponieren, daß sie von nirgendwo
herzukommen, oder daß sie gar im Kopf des Hörers zu entstehen scheinen.
Auf einer anderen Ebene trägt selbst in einer normalen C-Dur Tonleiter
jeder Ton bestimmte Informationen, manche davon mehrere, wie zB der
letzte, siebente Ton der Skala als Terz der Dominante und zugleich
Leitton zum Grundton der Tonika.
Die Stockhausensche Forderung nach der werkspezifischen Charakteristik
der Klänge schaltet dieser Aufladung mit Information sozusagen einen
Filter vor: nur das Gewünschte ist erlaubt, andere Möglichkeiten
entfallen.
Und genauso arbeiten Komponisten auf der ganzen Welt. Es gibt Myriaden
von Partituren, klug komponiert, mit strengen Auswahlkriterien; rigide
ausgewählte Intervalle werden gewissenhaft aneinandergereiht... der
Komponist gönnt sich nichts. Und seinem Hörer gönnt er auch nichts.
Es gilt also, noch einem Geheimnis nachzuspüren. Wie wird aus einer augenscheinlich “normalen” Partitur ein unerhörtes Stück?
• Klangbeispiel 2: Stockhausen, Quartettbeispiel 1
Sie hörten gerade einige Sekunden aus einem berühmten, ja legendären
Streichquartett. Daß Sie die Passage, selbst wenn Sie das Stück gut
kennen, nicht der Komposition, aus der sie stammt, zuordnen konnten
liegt daran, daß der Komponist zwar ebenfalls seine Intervalle
“gewissenhaft aneinandergereiht” hat, damit aber noch nicht fertig war.
Er hatte das Stück geträumt. Und im Traume erschien ihm etwas, das weit
über die “normal” zu komponierenden Klänge hinausgeht, ja sogar etwas,
das diese auf einer höheren Ebene wieder zum Material werden läßt, mit
dem der Komponist erneut komponieren kann: eine Metakomposition könnte man das nennen.
Wir betrachten diese Passage etwas genauer. Und treten dem Werk mit dem folgenden Klangbeispiel etwas näher.
• Klangbeispiel 3: Stockhausen, Quartettbeispiel 2
Dies klingt erheblich anders als das letzte Beispiel, und doch hat sich
nicht eine einzige Note verändert. Nur der Kontext wurde geändert,
indem der Notentext der geträumten Grundidee des Werks
entsprechend neu verteilt wurde.
Waren die vier Streicherstimmen in der Urform streng registergebunden
und insofern “als Stimme” geführt, daß jeder der vier Stränge von den
anderen jeweils grundverschieden war, so wandern die nun fragmentierten
Partikel jedes Strangs durch die Instrumente. Es ergibt sich eine
permanente Stimmkreuzung.
Zur Verdeutlichung hören wir nocheinmal beide Versionen direkt
nacheinander. Zunächst die ursprüngliche, dann die verarbeitete Version
mit den Stimmkreuzungen.
• Klangbeispiel 4: Stockhausen, Quartettbeispiele 1 + 2
Doch auch in dieser Form werden Sie das Stück kaum je zu hören
bekommen. Der Komponist hat auch dieses bereits in sich veränderte
Material nocheinmal weiterverarbeitet, indem er die durch den ersten
Eingriff entstandenen Stimmkreuzungen fruchtbar machte und sie in
völlig unerwarteter, ja unerhörter Weise thematisierte.
Waren die ursprünglichen Stimmen streng registergebunden, so sind durch
die Stimmkreuzungen vielfältige Sprünge entstanden. Der Komponist
entschied nun, daß alle Noten der Komposition durch beständiges
Glissandieren miteinander verbunden werden sollten. Weiter noch:
der - nun bald zu ent-deckenden - Grund- oder:
Traumidee des Stückes folgend werden Zielnoten und Glissandi, also das
gesamte Werk, grundsätzlich im Tremolo gespielt.
Mag auch manches Detail der Intervallkonstruktion dadurch im Klang- und
Aktions-Kontext verloren gehen, so entsteht doch dadurch ein
besonderer, das ganze Stück charakterisierender Klang, wie ein
Bienenschwarm... oder: wie gewaltige Fluginsekten, wie Helikopter.
Und so sei an dieser Stelle entdeckt, daß es sich bei diesem Beispiel um das Helikopterquartett
aus dem Jahre 1992/93 von Karlheinz Stockhausen handelt, das nicht nur
dem beständigen Tremolo der vier Spieler das Rattern von
Helikopterrotoren beimischt, sondern sogar die vier Spieler in vier
separaten Helikoptern auftreten läßt, die durch ein höchst komplexes
Übertragungssystem Verbindung miteinander und mit dem Publikum im Saale
halten.
Es gibt im Übrigen kaum ein Werk, das den Stockhausenschen Imperativ
des werkcharakteristischen Klanges so radikal umsetzt wie dieses.
Dazu der Komponist:
Und dann kam ein Traum: ich hörte und
sah die vier Streicher in vier Helikoptern in der Luft fliegen und
spielen. Gleichzeitig sah ich Menschen auf der Erde in einem
audiovisuellen Saal sitzen, andere auf einem großen Platz stehen. Vor
ihnen waren vier Türme von Fernsehschirmen und Lautsprechern aufgebaut:
links, halblinks, halbrechts, rechts. In jeder der vier Richtungen
hörte und sah man einen der vier Streicher in Nahaufnahme.
Die Streicher spielten meistens
Tremoli, die sich den Klangfarben und Rhythmen der Rotorblätter so gut
mischten, daß die Helikopter wie Musikinstrumente klangen.
(aus: Partiturvorwort)
• Klangbeispiel 5: Stockhausen, Helikopterquartett, “Start” (=2. Akkolade der Partitur)
Für diese Vorgehensweise im Sinne einer Metakomposition
möchte ich Ihnen noch ein weiteres Beispiel vorstellen. Es handelt sich
ebenfalls um ein Streichquartett, ein legendäres Stück seiner Gattung,
das 1980 uraufgeführt wurde. Wenn auch nicht in dieser Gestalt, die
Ihnen unser nächstes Klangbeispiel zeigt:
• Klangbeispiel 6: Nono, Quartettbeispiel 3
Dies sind vier Takte aus einer Komposition, die ihr Autor so nie
spielen ließ. Es ist bekannt, daß er mit diesem Werk über längere Zeit
zu ringen hatte, und in der schließlich veröffentlichten Gestalt
eröffnete diese Komposition einen neuen Schaffensabschnitt im Werk des
Komponisten, das inzwischen fest im kollektiven Musikbewußtsein
verankert ist - durch die spezifische Klanghaltung, die dem
gerade gespielten Ausschnitt noch nicht zukommt.
Hören wir das Beispiel noch einmal.
• Klangbeispiel 7 (=6): Nono, Quartettbeispiel 3
In diesen Takten ist in der Bratschenstimme ein Zitat alter Musik versteckt, das nur in der hier gespielten Form hörbar ist: Malor me bat von Johannes Ockeghem.
Die Rede ist von Luigi Nonos Streichquartett Fragmente - Stille, An Diotima, das den Spätstil des Komponisten quasi mit einem Bruch herbeiführt.
Dieser Spätstil Nonos, festzumachen an den extrem zerdehnten Passagen,
Zeitlupenabläufen, wie mit einem Mikroskop ins Riesenhafte vergrößerten
Filigrangespinsten: entstand er in diesem Werk erst in einem zweiten
Schritt, in dem der Komponist einen zunächst präkomponierten Notentext
einer Metakomposition unterwarf, einer (neuen) Grundidee für das Stück folgend?
Ein Blick in die Partitur lehrt, daß der bekannte Duktus des Stückes
keine Entsprechung in der Notation findet. Für unser Klangbeispiel
haben wir keine Note, keinen Notenwert, ja noch nicht einmal das von
Nono vorgegebene Tempo verändert.
Verändert wurde unser Notenbeispiel im Vergleich zur finalen Version
des Quartetts ausschließlich durch Weglassen der jede einzelne Note
betreffenden, den notierten Rhythmus dadurch aufhebenden oder
zerstörenden Fermaten unterschiedlicher Dauer.
Es ist, als habe Nono über einen bereits etablierten Notentext ein Netz
von Fermaten gespannt, um diesen ursprünglichen - in den
notierten Notenwerten aber nie aufgegebenen - Notentext
unkenntlich zu machen.
So werden aus eigentlich noch recht unspektakulären Vierteln, Achteln
und wenigen Triolen innerhalb eines einheitlichen Tempos die für den
späten Nono so typischen Klänge.
Es sind nicht also die “gewissenhaft aneinandergereihten Intervalle”,
sondern dieser zusätzliche kompositorische Schritt, der den
ursprünglichen Notentext zum Material erklärt, ihn dadurch auflöst und
uns dabei das Stück im Gedächtnis festhält wie wenig Anderes:
• Klangbeispiel 8: Luigi Nono, Fragmente - Stille, An Diotima; Part. S. 31, die letzten vier Takte
Die Idee einer Komposition als Metakomposition,
also einer weiterführenden Komposition auf der Basis zuvor komponierter
Materialien war in den bisher gehörten Beispielen quasi homophon
gedacht, sie vertikalisierte das kompositorische Material. Liesse sich
nicht auch in Richtung einer Horizontalisierung, einer polyphonen
Erweiterung weiterdenken?
Dabei würde primär nicht ein vorher komponiertes Material verändert, um es an eine Werkidee zu adaptieren.
Präkomponierte Einzelmusiken würden wie Bausteine eines größeren Ganzen
zusammengesetzt. Komposition - ich paraphrasiere
einen Ausspruch Velimir Chlebnicovs, des russischen Futuristen
- wäre nicht eine Baukunst aus Tönen, sondern aus Kompositionen
erster Ordnung.
Ich denke an eine Musik, die wie die Stimmen eines Streichquartetts
oder noch besser: einer Motette verschiedene polyphone Stränge
aufweist, in die man von Zeit zu Zeit wie mit einem Mikroskop
hineinsieht oder -hört, um zu faszinierenden neuen Möglichkeiten
polyphoner Verknüpfung zu finden.
Jeder der Einzelfäden liesse sich wie ein dickes Tau seinerseits wieder
in Einzelfäden auflösen, verschiedene Fäden kreuzen sich, gehen
ineinander auf, verzweigen sich...
Jeder dieser Stränge müsste für sich alleine stehen können, in sich unverwechselbar, mit einer eigenen Identität.
Aber in der Vernetzung des Gesamtzusammenhangs würde er neue Kräfte
freisetzen können, verborgene Energien - wie ein Mensch,
der erst im Miteinander seine besonderen Gaben, seine Größe und auch
seine Verletzlichkeiten zeigen kann.
• Klangbeispiel 9: Platz up (Ausschnitt)
Stellt man sich eine polyphone Vernetzung des eben gehörten Ausschnitts aus meiner Klavierkomposition up
vor, so folgt aus der Forderung nach Autarkie, der Eigenidentität für
jeden polyphonen Strang, daß die anderen Stränge der polyphonen
Vernetzung deutlich voneinander abweichende Besetzungen und
Formverläufe aufweisen müssten.
Im Gegensatz zu einem Gemälde, das im Bruchteil eines Augenblicks als
Ganzes in seiner Homogeneität oder auch Vielschichtigkeit bereits
erkannt oder zumindest eingeordnet werden kann, entsteht die
Vorstellung einer gehörten Komposition vollständig erst mit dem
Abschluß des Hörerlebnisses aus der Erinnerung: Hören ist
rekonstruieren.
Soll der Hörer aber im Moment des Hörens
bereits verschiedene polyphone Stränge als verschieden wahrnehmen, so
erleichtert dies eine von Strang zu Strang wesentlich unterschiedliche
Besetzung.
• Klangbeispiel 10: Platz up down (Ausschnitt)
Sie hörten gerade einen Ausschnitt aus meinen Kompositionen up (Klavierstück 4) und down für Oktett in einer Simultanaufführung: up down.
Der gesamte Zyklus, zu dem diese beiden Partituren gehören, umfaßt in
seinem Kernbereich vier verschiedene Stücke in verschiedenen
Besetzungen, die in einer polyphonen Vernetzung - einer
Polyphonie verschiedener Formen - gleichzeitig gespielt
werden können.
Die beiden nun noch fehlenden Stücke sind: strange für Klarinette, Harfe und Schlagzeug sowie charm für Violine und die japanische Mundorgel Shô oder Akkordeon.
• Klangbeispiel 11: Platz, strange charm (Ausschnitt)
Jedes dieser Stücke folgt einem eigenen formalen Verlauf, hat seine eigene klangliche Identität.
Dies aber würde vom Hörer kaum nachvollzogen werden können, würden alle
Ausführende in der tradierten Weise auf einer Bühnenfläche
zusammengepfercht.
Es ist ein fester Bestandteil der Konzeption dieser Musik, jeden
polyphonen Strang an einer anderen Stelle des Aufführungsraumes zu
placieren. Nur so entfaltet sich im wörtlichen Sinne der Klang, nur so
wird das Mehrdimensionale dieses Zyklus up down strange charm hörbar.
Es versteht sich, daß diese Metakomposition
aus vier unabhängigen Stücken diese nicht einfach ohne weiteren
Eingriff gleichzeitig ablaufen läßt, sondern daß ein subtiles Geflecht
entsteht, in dem jedem Strang die Möglichkeit solistischer Entfaltung
wie gleichermaßen von Ruhepausen zukommt.
Es ist, wie wenn die einzelnen Stücke Rücksicht aufeinander nähmen,
sich zueinander demokratisch verhielten und die eigene Identität gerade
dadurch untermauerten, daß sie die der Anderen respektieren.
Eine musikalische Globalisierung also, und ganz ohne Verlierer...
• Klangbeispiel 12: Platz, up down strange charm (Ausschnitt)
Robert HP Platz (7/2004)
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