ROBERT HP PLATZ
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22.8.2002
Lieber Chandos
Wenn Sie wüssten, wie sehr ich Ihre Not verstehe. Sie werden es mir
wohl kaum glauben, aber: wie oft habe ich neidvoll die Unzerrissenheit,
die Selbstverständlichkeit, die Eingängigkeit der Werke einiger
Kollegen betrachtet und mir insgeheim zugeben müssen: zwar könnte ich
dies auch - ja, mein Kopf ist voll von solch unmittelbar
sich dahingebenden, eine heile Welt vortäuschenden Stücken. Aber es ist
mir nicht möglich, sie aufzuschreiben als einen Spiegel meiner eigenen
Welt, ich kann nicht. Ein Widerspruch?
Einer, der lange nach Ihnen kam, sagte: „Danach“ (er sprach von
der größten Schande, der sich mein Land je in seiner Geschichte
schuldig gemacht hat) „kann keiner mehr Gedichte schreiben“. In der Tat
(und hier berührt sich Ihr und sein Standpunkt) kann ich nicht mehr
guten Gewissens ein Stück über einen Apfelbaum schreiben (ich
paraphrasiere wiederum einen späteren Kollegen), da dies so viel
Schweigen über geschehenes Unrecht einschlösse. Wir alle haben unsere
Unschuld verloren.
Ich habe lange selbst damit gehadert. Nicht indes, weil mir das
Wort der Andern zu sehr zu Herzen gegangen hätte, sondern weil die
Wunde in mir selber klafft, ja: weil ich meine ganze Jugend über im
heißen Disput mit der Generation meiner Eltern versucht hatte, dieses
Problems für mich Herr zu werden.
Ich habe lange gerungen - aber niemals hätte ich wie Sie den Weg des Schweigens gewählt.
Das allererste, das ich von der Kunst verlange ist: daß sie wahr sein
soll. Und um noch einmal auf das Beispiel des Apfelbaumes
zurückzukommen: Ein Stück über den Apfelbaum ist unwahr, da es den
Mantel des Schweigens über zu Vieles breitet. Aber nur und generell zu
schweigen (auch über das Unrecht) ist in nichts besser als das
partielle Schweigen (nur über das Unrecht).
Die Zerrissenheit der Welt um mich herum aber ist auch in mir selber
und ich kann nicht anders als mich zu dieser Zerrissenheit zu bekennen.
Erst als ich mich diesem Gedanken gestellt hatte, war ich in der Lage,
einen Ausweg zu finden: bei aller Wehmut darüber, daß mir der Weg zu
den Apfelbäumen mancher Kollegen nicht offensteht überkommt mich bei
der Arbeit seitdem immer wieder das Glücksgefühl, meinen Weg gefunden
zu haben. Meinen ganz persönlichen Weg, der (um im Bilde zu bleiben)
nun sehr wohl auch an einem Apfelbaum vorbei führen mag, wenn der Blick
darauf denn die blutige Erde, auf der er wächst, mit einschließen kann,
oder, wenn Ihnen dieses Bild zu drastisch sein sollte: die Schlange in
seinen Ästen. So wird mein Bild des Baumes zwar nicht „schön“, aber
durch die Weitung des Blickes, durch das Zulassen meiner
Zerrissenheit und damit der Polyphonie meiner Empfindungen
wahr. Und durch diese Wahrhaftigkeit mag es auch doch noch einmal
schön werden, vielleicht schöner als zuvor...
Die in tausend Splitter und Empfindungen zerstobene Welt wird für mich
auf diese Art faßbarer. Wie hätte ich darüber verstummen können? Ich
musste es wagen und diese Splitter auf meine Art zusammenzwingen; und
so muß ich immer wieder, wenn ich einen Satz geschrieben habe, einen
anderen als Kontrapunkt dagegensetzen und so wenigstens ansatzweise den
Versuch unternehmen, eine Ganzheit zu schaffen oder: durch die
Gegensätzlichkeit der Teile/Splitter offenzulegen, daß es sich eben um
Teile/Splitter eines Ganzen handelt - ohne den Anspruch,
das Ganze jemals vollständig in einem Werk zusammenfassen zu können.
Nun zu Ihnen: die Gründe Ihres Verstummens ehren Sie. Aber fragen Sie
sich: Wem dienen Sie mit Ihrem Verstummen? Etwa dem Allgemeinwohl? Wohl
eher dient Ihr Verstummen doch Ihnen selber ganz alleine, um sich der
Wehmut über die veränderte Welt ganz hingeben zu können?
Die Welt hat sich immer und wird sich immer weiter verändern. Sie
braucht nicht unser Schweigen, sie braucht auch nicht unsere
Stellungsnahme. Aber was wüssten wir von der Welt, so wie so vor uns
war; wo wären wir mit unserer Kunst, wenn alle vor uns immer nur
geschwiegen hätten - ??
Schreiben heißt: Leben! Das Schweigen - wie ehrbar die
Gründe dafür auch sein mögen - hat für mich immer etwas
Moralinsaures, etwas Unlebendiges... noch nicht einmal aus einer tiefen
Todessehnsucht heraus, eher aus Lebensangst und Bequemlichkeit. Leben
Sie!... und - überlassen Sie das Schweigen denen, die
nichts zu sagen wissen. Ihr Brief beweist, daß Sie zu jenen nicht
gehören: Sie haben ja bereits geschrieben.
Freundliche Grüße von Ihrem
Robert HP Platz