Pierrot Lunaire Sprechgesang
Wie präzise läßt sich Musik aufschreiben?
Die Entwicklung der Musik im XX. Jahrhundert war auch ein Erschließen neuer Dimensionen („Parameter“) musikalischen Denkens und deren schriftlicher Darstellung, eine (Weiter-) Entwicklung der musikalischen Notation zu immer größerer Genauigkeit.
Insbesondere zu Zeiten der seriellen Musik in den 50er und 60er Jahren glaubte so mancher Komponist, er habe mit absoluter Präzision notiert, was an Ergebnissen seiner Klangforschungen wieder zu Klang werden sollte.
Doch der Glaube, Partituren mit noch nie gekannter Präzision notiert zu haben hat sich verflüchtigt. Die historische Distanz zeigt uns heute, daß auch in dieser Epoche so etwas wie eine Aufführungspraxis entstanden ist, die über die Notation hinaus regelt, wie eine Partitur umzusetzen ist.
Denn zu vieles bleibt - unabhängig von der Präzision einer Partitur - unnotiert; fast könnte man sagen, „die Musik“ selbst entziehe sich ihrer Notation oder, etwas weniger spitzfindig: das Selbstverständliche wird nicht notiert.
Was aber ist selbstverständlich in der Musik? Nichts? Oder alles: das, „worum es geht“ als ein Nicht-in-Frage-Gestelltes? Oder einfach etwas, das dem Komponisten so klar war, daß ihm seinerseits das Nichtverstehen eines Außenstehenden unverständlich wird?
Nehmen wir als Beispiel eine Partitur, die wie keine andere im XX. Jahrhundert Fragen zur Interpretation aufwirft und der dabei für die Entwicklung der Neuen Musik doch zentrale Bedeutung zukommt: Arnold Schönberg’s PIERROT LUNAIRE von 1912 und das Problem des „Sprechgesangs“.
Natürlich hat Schönberg alles aufs Genaueste notiert: Rhythmen, die exakten Tonhöhen der Sprechstimme, wann gesprochen wird (meistens), wann gesungen wird (selten)... nur eines nicht: das für den Komponisten allzu Klare und daher Selbstverständliche. Für uns indes bleibt ein unaufgelöster Rest; und so scheint bis heute nicht geklärt: was ist das überhaupt, wie klingt er, wie führt man ihn aus: diesen „Sprechgesang“?!
Immerhin hat Schönberg im Vorwort zur Partitur einige Angaben gemacht, die indes den Sachverhalt eher verschleiern als klären - der Sprechgesang darf "nie an Gesang erinnern", aber es wird auch nicht "ein realistisch-natürliches Sprechen angestrebt". Wohl wahr, nur bleibt uns Schönbergs Vorstellung immer noch zu vage, um die rechte Nuance treffen zu können.
Könnte man nicht die historische Aufnahme unter Schönbergs eigener Leitung zur Klärung heranziehen? - Kann man nicht. Denn dort wird dermaßen gesündigt, daß die Mutmaßung erlaubt sein muß, der Komponist habe zur Verhinderung auch zukünftigen Jaulens erst einen weiteren Passus des Partiturvorwortes entworfen: "der Ausführende muß sich aber sehr davor hüten, in eine singende Sprechweise zu verfallen. Das ist absolut nicht gemeint."
Was also tun?
Die traditionelle Schlamperei übersetzt alles "so ungefähr", da es ja, wie jeder weiß, nur „auf die Linie ankommt“. Die gängige Lösung lautet also: Die notierten Tonhöhen finden keinerlei Berücksichtigung („das geht ja doch nicht“), oder wenn, dann kaum mehr denn als taktweise beibehaltene Intervallstruktur, kurioserweise oft eine Quinte zu tief.
Selbst Boulez gibt in seinem Lexikon-Artikel zu Schönberg eine zwar nachvollziehbare, gleichwohl unbefriedigende Begründung seiner Jahre später unter völliger Ignorierung des Sprechgesangs vorgelegten Schallplatteneinspielung - er läßt das ganze Werk schlichtweg singen.
Trotzdem findet sich in seinem Text ein Schlüsselwort, das in Schönbergs Partitur-Vorwort transplantiert die Sache klären hilft: "Emissionsdauer" (nachzulesen in: Pierre Boulez, Anhaltspunkte, Stuttgart/Zürich 1975, S. 313)
Ich lese jetzt also: "Der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber nach kurzer Emissionsdauer."
Nun klingt der Satz zwar ein wenig amtlich nach den neuesten Abgasbestimmungen, besagt aber klar: die Tonhöhe ist beendet nach kurzer Zeit. Also kein wimmerndes Glissando nach oben oder unten wie in Schönbergs eigener Aufnahme ("... verläßt sie durch Fallen oder Steigen sofort wieder"), sondern technisch gesprochen eine Amplitudenrücknahme.
Und das geht tatsächlich! Die Probe aufs Exempel ist einfach und für jeden nachvollziehbar: Unterbrechen Sie sich zum Test einmal mitten im Redefluß. Setzen Sie die zuletzt gesprochene Passage quasi in musikalische Wiederholungsklammern, um beim wiederholten Sprechen auf die Sprachmelodie, die Tonhöhen des Sprechgesangs zu achten. Hat man erst einmal die einer Passage zugrundeliegende Tonfolge erkannt, versucht man, unter Beibehaltung dieser Tonhöhen den Satz nochmals zu sprechen und erhält Schönbergs Sprechgesang .
Somit ist es möglich, PIERROT wie notiert auszuführen: gesprochen, aber mit den exakten Tonhöhen. Daß dies bisweilen ungewohnt klingt, liegt an der noch heute wirksamen Radikalität von Schönbergs Werk - und am Genre, "im Ganzen eine höhere Art von Kabarett, dessen humoristische Seite allzu oft übersehen wurde" (Boulez).
Jedenfalls ergibt sich, etwa im hohen Register, wo normalerweise niemand spricht, eine textbezogen richtige Komik.
Robert HP Platz (1993/99)
Wie präzise läßt sich Musik aufschreiben?
Die Entwicklung der Musik im XX. Jahrhundert war auch ein Erschließen neuer Dimensionen („Parameter“) musikalischen Denkens und deren schriftlicher Darstellung, eine (Weiter-) Entwicklung der musikalischen Notation zu immer größerer Genauigkeit.
Insbesondere zu Zeiten der seriellen Musik in den 50er und 60er Jahren glaubte so mancher Komponist, er habe mit absoluter Präzision notiert, was an Ergebnissen seiner Klangforschungen wieder zu Klang werden sollte.
Doch der Glaube, Partituren mit noch nie gekannter Präzision notiert zu haben hat sich verflüchtigt. Die historische Distanz zeigt uns heute, daß auch in dieser Epoche so etwas wie eine Aufführungspraxis entstanden ist, die über die Notation hinaus regelt, wie eine Partitur umzusetzen ist.
Denn zu vieles bleibt - unabhängig von der Präzision einer Partitur - unnotiert; fast könnte man sagen, „die Musik“ selbst entziehe sich ihrer Notation oder, etwas weniger spitzfindig: das Selbstverständliche wird nicht notiert.
Was aber ist selbstverständlich in der Musik? Nichts? Oder alles: das, „worum es geht“ als ein Nicht-in-Frage-Gestelltes? Oder einfach etwas, das dem Komponisten so klar war, daß ihm seinerseits das Nichtverstehen eines Außenstehenden unverständlich wird?
Nehmen wir als Beispiel eine Partitur, die wie keine andere im XX. Jahrhundert Fragen zur Interpretation aufwirft und der dabei für die Entwicklung der Neuen Musik doch zentrale Bedeutung zukommt: Arnold Schönberg’s PIERROT LUNAIRE von 1912 und das Problem des „Sprechgesangs“.
Natürlich hat Schönberg alles aufs Genaueste notiert: Rhythmen, die exakten Tonhöhen der Sprechstimme, wann gesprochen wird (meistens), wann gesungen wird (selten)... nur eines nicht: das für den Komponisten allzu Klare und daher Selbstverständliche. Für uns indes bleibt ein unaufgelöster Rest; und so scheint bis heute nicht geklärt: was ist das überhaupt, wie klingt er, wie führt man ihn aus: diesen „Sprechgesang“?!
Immerhin hat Schönberg im Vorwort zur Partitur einige Angaben gemacht, die indes den Sachverhalt eher verschleiern als klären - der Sprechgesang darf "nie an Gesang erinnern", aber es wird auch nicht "ein realistisch-natürliches Sprechen angestrebt". Wohl wahr, nur bleibt uns Schönbergs Vorstellung immer noch zu vage, um die rechte Nuance treffen zu können.
Könnte man nicht die historische Aufnahme unter Schönbergs eigener Leitung zur Klärung heranziehen? - Kann man nicht. Denn dort wird dermaßen gesündigt, daß die Mutmaßung erlaubt sein muß, der Komponist habe zur Verhinderung auch zukünftigen Jaulens erst einen weiteren Passus des Partiturvorwortes entworfen: "der Ausführende muß sich aber sehr davor hüten, in eine singende Sprechweise zu verfallen. Das ist absolut nicht gemeint."
Was also tun?
Die traditionelle Schlamperei übersetzt alles "so ungefähr", da es ja, wie jeder weiß, nur „auf die Linie ankommt“. Die gängige Lösung lautet also: Die notierten Tonhöhen finden keinerlei Berücksichtigung („das geht ja doch nicht“), oder wenn, dann kaum mehr denn als taktweise beibehaltene Intervallstruktur, kurioserweise oft eine Quinte zu tief.
Selbst Boulez gibt in seinem Lexikon-Artikel zu Schönberg eine zwar nachvollziehbare, gleichwohl unbefriedigende Begründung seiner Jahre später unter völliger Ignorierung des Sprechgesangs vorgelegten Schallplatteneinspielung - er läßt das ganze Werk schlichtweg singen.
Trotzdem findet sich in seinem Text ein Schlüsselwort, das in Schönbergs Partitur-Vorwort transplantiert die Sache klären hilft: "Emissionsdauer" (nachzulesen in: Pierre Boulez, Anhaltspunkte, Stuttgart/Zürich 1975, S. 313)
Ich lese jetzt also: "Der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber nach kurzer Emissionsdauer."
Nun klingt der Satz zwar ein wenig amtlich nach den neuesten Abgasbestimmungen, besagt aber klar: die Tonhöhe ist beendet nach kurzer Zeit. Also kein wimmerndes Glissando nach oben oder unten wie in Schönbergs eigener Aufnahme ("... verläßt sie durch Fallen oder Steigen sofort wieder"), sondern technisch gesprochen eine Amplitudenrücknahme.
Und das geht tatsächlich! Die Probe aufs Exempel ist einfach und für jeden nachvollziehbar: Unterbrechen Sie sich zum Test einmal mitten im Redefluß. Setzen Sie die zuletzt gesprochene Passage quasi in musikalische Wiederholungsklammern, um beim wiederholten Sprechen auf die Sprachmelodie, die Tonhöhen des Sprechgesangs zu achten. Hat man erst einmal die einer Passage zugrundeliegende Tonfolge erkannt, versucht man, unter Beibehaltung dieser Tonhöhen den Satz nochmals zu sprechen und erhält Schönbergs Sprechgesang .
Somit ist es möglich, PIERROT wie notiert auszuführen: gesprochen, aber mit den exakten Tonhöhen. Daß dies bisweilen ungewohnt klingt, liegt an der noch heute wirksamen Radikalität von Schönbergs Werk - und am Genre, "im Ganzen eine höhere Art von Kabarett, dessen humoristische Seite allzu oft übersehen wurde" (Boulez).
Jedenfalls ergibt sich, etwa im hohen Register, wo normalerweise niemand spricht, eine textbezogen richtige Komik.
Robert HP Platz (1993/99)